Utopie und Plot

Februar 3, 2013

von Jens Cram

captive balloon

Der dramaturgische Mangel: Wer von Utopie schreibt, ist ein Erzähler ohne Bodenhaftung, aber mit Überblick.

Utopien, als bester Zustand menschlichen Zusammenlebens verstanden, sind eben nur das: ein Zustand. Bekannte Utopien wie Platons Staat, Mores Utopia oder Bacons Nova Atlantis haben in der Abhandlung die geeignete stilistische Form gefunden, die reine Zustandsbeschreibung, und die Aufgabe scheinbar darin gesehen, einen Zustand zu beschreiben, der gleichzeitig stabil und wünschenswert ist.

Und langweilig. Zwar implizieren Utopien die Wahrnehmung der Realität als Dystopie und fordern somit zur Überwindung derselben auf, aber die Überwindung wird nicht zum Thema gemacht. Somit gibt es zwar einen Endzustand und einen impliziten Anfangszustand, aber keinerlei Dynamik.

Man mag den Erfolg des Kommunismus suchen wo man will, aber hier soll einmal festgestellt werden, dass Marx und Engels sich auf Dramaturgie verstanden: Die historische Erzählung des ewig brodelnden Klassenkampfes, der in dialektischen Spiralen immer komplexere Gesellschaften und Ideologien entstehen lässt und jetzt, im 19. Jahrhundert, auf seinen absoluten Höhepunkt, die alles entscheidende Schlacht zusteuert, ist an Dramatik kaum zu überbieten. Indem die negativen Folgen aktueller Produktionstechniken zum Anlass genommen werden, die neuesten wissenschaftlichen Formen der Zeit (Hegelsche Dialektik und Darwinistische Evolutionstheorie) in eine Erzählung der Zukunft zu wandeln, schufen Marx und Engels erstklassige Science-Fiction. Nicht in der Utopie sondern im Weg aus der Dystopie entsteht die Dynamik.

Utopien sind also schön, wünschenswert und langweilig, Dystopien hingegen hässlich, zu überwinden und ungeheuer spannend. Die Utopie kann zwar anziehend wirken, aber als echter Antrieb fungiert sie nur, wenn der reale Gegenentwurf wirklich als abstoßend empfunden wird. Man muss die Gegenwart als Dystopie empfinden, um sich zur Utopie aufmachen zu wollen.

Die erfüllte Utopie als Thema des Films ist also geradezu ausgeschlossen, da nichts einen Film mehr zerstört als ein undynamischer Plot. Man könnte geradezu spekulieren, dass die deutliche Vorliebe von Autoren und Filmemachern für Dystopien weniger dem Pessimismus sondern hauptsächlich dem Plot geschuldet ist. Drei schöne Stummfilmbeispiele lassen uns hier die Dialektik der Utopie miterleben: Himmelskibet (1918) erzählt die Reise einiger recht weltlicher Herren zum Mars, wo sie auf eine vollendete utopische Naturgesellschaft treffen. Kaum hat sich nach der Landung die erste Erheiterung über dieses weißgewandete Volk gelegt, bricht die Langeweile über den Zuschauer herein. Der einzige Versuch, diese zu durchbrechen, indem nämlich die Erdenmenschen durch den Einsatz einer Schusswaffe ein wenig Unruhe in die heile Welt bringen, kann den Film nicht mehr vor seinen Untergang bewahren. Der Film scheitert an der Möglichkeit des unmöglichen Plots. Metropolis (1927) hingegen konzentriert sich ganz auf die Dramatik des Klassenkampfs in seiner dystopischen Großstadt. Die Überwindung der Dystopie formuliert den Plot, die Utopie bestimmt nur, als weiteres Heilsversprechen, das Ziel der Bewegung. Die zwei äußersten Pole mit ihren Folgen für den Plot sind in diesen Filmen in ihrer ganzen Reinheit zu erleben. Ein eigentümliches Zwischenstadium hingegen, verkörpert der Film Aelita (1924). Als propagandistisches Werk im postrevolutionären Russland ist der Film vielleicht nicht realistisch, aber in vollem Maße der Realität geschuldet. Die letzte Schlacht des Klassenkampfes ist entschieden, die Dystopie ist überwunden, die Utopie ist freilich noch nicht erreicht. Der Protagonist, unzufrieden mit diesem schwer zu definierenden Zwischenstadium, träumt sich wieder die ganze Dramatik der Revolution herbei. Wie seltsam sich hier alles umdreht. Plötzlich wird die Dystopie mit ihrem Heilsversprechen herbeigesehnt, um wieder Spannung in den grauen Alltag zu bringen. Aber diese Figur ist längst als süßer Traum entlarvt und wird vom viel süßeren Versprechen einer hart zu erarbeitenden realen Utopie verdrängt.